Textadventures im Literaturunterricht

Zwei- oder dreimal habe ich Anfragen von Deutsch- oder Literaturlehrern bekommen, die T.A.G. im Unterricht einsetzen möchten, um im Rahmen eines Projektes ein Textadventure zu schreiben. Ich freue mich zwar, wenn man das Thema Textadventures in Schulen diskutiert und ich kann mir vorstellen, dass sich Textadventures wegen des geringen Aufwands an Ressourcen zur Projektarbeit eignen, aber dass tatsächlich Spiele aus solchen Projekten hervorgegangen wären, ist mir nicht bekannt.

Jetzt wurden im if::de-Forum die Ergebnisse eines solchen Projekts angekündigt: Schüler der Liebfrauenschule in Köln haben in einem 12er Literaturkurs unter der Leitung von Andreas Schlenger sechzehn neue Textadventures geschrieben, die auf einer eigens dafür eingerichteten Webseite veröffentlicht wurden.

Das erste, was mir beim Spielen aufgefallen ist, und was mich etwas erschreckt hat, ist, wie alt und hässlich die T.A.M. in der DOS-Box aussieht. T.A.G. ist alt, okay, aber es ist offenbar nicht gut gealtert. Außerdem lassen sich viele Spiele nicht mit der MS-DOS-T.A.M., sondern nur mit der eigentlich nie so recht aus dem Beta-Stadium herausgekommenen WinTAM spielen. Oje.

Alles Weitere, das mir aufgefallen ist, betrifft die Spiele selbst.

Die Spiele des Literaturkurses sind sehr kurz, verwenden durchweg sehr lange, nicht interaktive Texte und sind zum großen Teil keine Textadventures.

Zumindest keine Textadventures nach meinem Verständnis, also Spiele, die einen momentanen Zustand innerhalb einer abstrakten Modellwelt beschreiben und bei denen der Spieler eine Reihe von Handlungsmöglichkeiten hat, die er über den Parser dem Spiel mitteilt.

Die erste Einheit des von Andreas Schlenger ausgearbeiteten Konzepts lautet:

Konzepte von Textadventures kennen lernen, Umgang mit der Software lernen (Texteditor, TAG, WinTAM, Freemind zur Skizzierung der Handlungsoptionen), Methoden der Ideenfindung für eigene Geschichten; Informationen zu IF im Internet

Mir scheinen die Konzepte des Textadventures aber nicht richtig verstanden worden zu sein.

Diese Spiele sind eher Hypertext-Erzählungen oder vielleicht Multple-Choice-Adventures, auch wenn sie den formellen Rahmen eines Textadventures haben, weil sie mit T.A.G. erstellt wurden.

Hypertext als Textadventure

Der Großteil der Spiele verwendet Räume als Szenen in einer meist linearen Geschichte:

In Er trug schwarz wird nach jedem Absatz eine Frage gestellt, die zwar jedes mal anders lautet, aber eigentlich bedeutet: Willst Du weitermachen? Bei »Ja« wird das nächste Kapitel erzählt, bei »nein« wird die Geschichte abgebrochen, der Protagonist geht einfach nach Hause.

In den Spielen Aladin und Die Karte kann man nach jedem Kapitel der Geschichte, das an einen Raum gebunden ist, in eine bestimmte Himmelsrichtung weitergehen, um in das nächste Kapitel zu gelangen. (Das funktioniert etwas besser in der Karte, da die Geschichte ein Galopp durch verschiedene Orte ist.)

In der Multiple-Choice-Geschichte In die Berge werden am Ende jeder Szene die Optionen als Himmelsrichtung angegeben: »Sollte ich ihn fragen, was denn los sei? Wenn du ihn fragen möchtest, gehe nach W, andernfalls nach O.«

Das Spiel Crazy??? verwendet denselben Mechanismus, vergisst aber, dem Spieler die Handlungsmöglichkeiten aufzuzählen. Der kann nur raten, was die einzelnen Richtungen bedeuten. Das ist besonders schlecht, weil nur eine der Möglichkeiten die lineare Geschichte weiterführt – die andere führt sofort in die Klapsmühle.

Die Abenteuer von Antonius Bartscher sind eher wie ein Textadventure aufgebaut. Die Abenteuer sind dann aber auch sehr linear; es ist eigentlich immer klar, was als nächstes geschieht. Auch hier wird einmal eine Auswahl als das Gehen in zwei Himmelsrichtungen implementiert. Die Auswahl, die eigentlich eine Verzweigung in der Geschichte hätte sein können, ist dann aber leider wieder das klassische »Zwei Wege, eine Sackgasse«. Hier werden außer den Himmelsrichtungen andere Textadventure-Befehle implementiert, allerdings nicht immer so, wie man es gewohnt ist. (Um mit einem Kamel gen Westen zu reiten, reicht es nicht, sich auf das Kamel zu setzen und »W« zu sagen, man muss das Kamel aufheben.) Mit den Objekten, die in den langen Beschreibungen auftauchen kann man nicht interagieren oder sie untersuchen – sie sind einfach nicht implementiert.

Keins dieser Spiele hat ein formales Ende. Aus den Texten wird klar, dass ein Ende erreicht ist, aber der Prompt sitzt weiter da und wartet auf Eingaben, die aber nicht mehr richtig interpretiert werden; die Anweisung gewonnen wird nie verwendet. Auch wird in den meisten Spielen nicht unterbunden, dass man »Szenen« mehrfach betreten kann. Im Abenteuer werden die Gegenstände, die man anderen Personen gibt, nicht aus dem Spiel genommen.

Nur der beschwerliche Aufstieg und Colonia Mortalis sind Textadventures im klassischen Sinne, mit Objekten in einer Spielwelt.

Erkundung

Ein weiterer Aspekt von Textadventures fehlt in den Texten des Literaturkurses: Die Möglichkeit, die Umgebung, in der die Geschichte spielt, zu erkunden. Spieler von Textadventures sind es gewöhnt, eine Szene näher untersuchen zu können. Es gilt als guter Stil, die wesentlichen Objekte, die in einer Raumbeschreibung erwähnt werden, als Objekte zu implementieren, wenn auch nur als Dekoration, die keinen Einfluss auf das Spiel selbst hat.

Die Möglichkeit, bestimmte Aspekte eines Textes näher zu beleuchten, ähnlich dem Untersuchen von Objekten in Textadventures kann auch Bestandteil eines Hypertexts mit verschiedenen Ebenen sein: Manche Links gehen in die Tiefe und beschreiben die Szene näher, andere gehen in die Breite und erzählen die Geschichte weiter.

Die Szenen der oben erwähnten Adventures aus dem Literaturkurs bieten diese Möglichkeiten nicht. Die Spiele, die tatsächlich Objekte verwenden, beschränken sich auf Personen und tragbare Objekte, die in der automatischen Auflistung der Objeke in der Raumbeschreibung auftauchen.

Schritt für Schritt

Auch etwas anderes haben die Spiele gemeinsam: Die einzelnen Texte sind sehr sehr lang. Das merkt man besonders, wenn man die DOS-T.A.M. mit ihren 80×25 Zeichen verwendet.

Die Texte sind lang und damit sind die Geschichten wenig interaktiv. Die Geschichte ist einfach da und wird in kleinere Stücke unterbrochen, die aber in keinem Zusammenhang mit den Handlungen des Spielers stehen. Der Spieler trifft eine Entscheidung oder macht das Offensichtliche, und dann kommt das nächste Stück Text, das die Geschichte meist weiter vorantreibt, als es der Spieler vorhersehen kann. Man kann zum Beispiel enscheiden, etwas zu Essen einzukaufen. Wenn dann aber die Geschichte weitererzählt wird, bis der Spieler in den Supermarkt geht, eine Ananas klaut und vom Ladendetektiv erwischt wird, dann hat die ursprüngliche Entscheidung nichts mehr mit der jetzigen Situation zu tun.

Normalerweise ist es in Adventures ja so: Alles, was zwischen zwei Spielereingaben passiert, also ein Zug, ist mehr oder weniger atomar, ein zusammenhängendes Stück der Handlung als Folge der vom Spieler ausgeführen Aktion und der Randumstände der Geschichte, wie zum Beispiel geskriptete oder über Timer gesteuerte Ereignisse.

Manche Spiele, insbesondere die »klassischen«, unterteilen das Spiel in sehr feine Spielzüge, was natürlich auch wieder uninteressant ist: Streichholz aus der Schachtel nehmen, Streichholz anreißen, Kerze anzünden. Ein Windstoß bläst die Kerze aus, und wieder von vorn. Solche minutiösen Implementierungen beschreiben meist ein Rätsel in allen Stufen, sind besonders bei Wiederholungen langwierig und -weilig und zum Glück aus modernen Adventures weitestgehend verschwunden.

Größere Handlungsbögen werden in kleine, einzelne Schritte unterteilt. Das Betreten des Supermarkts wäre ein Zug, das Mitnehmen der Ananas ein zweiter und das Verlassen des Ladens ohne zu bezahlen ein weiterer. Nach jedem Zug ist der Zustand des Spiels bekannt, und der kann in Adventures fast beliebig sein, da nicht nur eine lineare oder verzweigte Geschichte, sondern ein Weltmodell die Grundlage des Spiels ist.

Bestimmte Züge lösen einen Fortschritt in der Geschichte aus, aber die meisten Züge sind Erkundung der Welt oder kleine Schritte in Richtung des momentanen Spielziels. Die hier präsentierten Spiele implementieren fast jeden Fortschritt der Handlung als einen, monolithischen Zug.

Das falsche Werkzeug

Die vom Literaturkurs geschriebenen Textadventures sind schlecht, zumindest für denjenigen, der bereits Textadventures gespielt und daher gewisse Erwartungen hat. Trotzdem werden sie von den Mitschülern in den Kommentaren gut bewertet, was aber nicht verwundert: Die Schüler haben sich nicht mit bestehenden Textadventures auseinandergesetzt und bewerten lediglich die Texte, die als reiner Hypertext mehr oder weniger gut funktionieren.

Für solche Texte ist aber die Form des Textadventures ungeeignet. Der Texadventure-Kenner denkt: »Es sieht aus wie ein Adventure, also ist es auch eins«, und ist dann enttäuscht, weil nichts so funktioniert, wie er es gewohnt ist. Für den Hypertext-Leser ist das Textadventure-Interface umständlich: Anweisungen wie »Gehe nach Westen, wenn du den Pinsel aufheben willst« sind genauso verkorkst wie ein OK-Button, den man nur mit der rechten Maustatse anklicken kann.

Empfehlung für Literaturkurse

Ich bin gewiss keine Autorität auf dem Gebiet der Pädagogik, schon gar nicht, wenn es um Fächer wie Deutsch oder Literatur geht, aber ich denke, dass reiner Hypertext besser für Projektarbeit in der Schule geeignet ist als Textadventures.

Textadventures sind nicht sehr bekannt. Oberstufenschüler können mit dem Begriff nichts anfangen und selbst bei Älteren ist der Begriff umstritten: Der eine denkt an Infocom und Magnetic Scrolls, der andere an Choose Your Own Adventure, ein dritter an erste Progg-Versuche in QBasic. Die »Kulturtechnik« des Adventurespielens – ich meine mit diesem platten Begriff das erfolgreiche Kommunizieren mit dem Spiel – muss erst erlernt werden und ist auch nicht jedermanns Sache. Nicht umsonst spielen nur sehr wenige eingefleischte Fans Textadventures.

Hypertext hingegen kennt jeder. Er ist, zum Beispiel als reines HTML, sehr leicht zu erzeugen, entweder in einfachen Texteditoren im HTML-Quellcode oder in Entwicklungsumgebungen wie Textpattern. Und man kann ihn, wenn er fertig ist, einfach so ins Netz stellen.

Die Projektarbeit könnte sich dann auf das Schreiben und Konzipieren der Texte konzentrieren. Nur mit Text und ein paar Links kann man ja schon einige Ansätze für verknüpfte Erzählungen erarbeiten.

Außerdem machen sich HTML-Kenntnisse besser im Lebenslauf als Erfahrung mit T.A.G.